Die Zukunft der Lean-Manufacturing in einer dynamischen Welt

Im zweiten und letzten Teil unseres Interviews mit zwei Experten für Lean Manufacturing geht es um Strategien zur Reduzierung von Verschwendung und zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit in einer zunehmend digitalisierten, aber instabilen Welt. Außerdem erörtern wir, wie Etiketten- und Verpackungsverarbeiter den Produktionsfluss aufrechterhalten und flexibel bleiben können, wenn Knappheit und Preisinflation zunehmend zur Norm werden.

Dr. Jannes Slomp, Dozent für World Class Performance, und Wilfred Knol, Forscher und Dozent für Organisationsdesign und -entwicklung von der HAN University of Applied Sciences (Arnheim und Nijmegen, Niederlande), haben sich in diesem Interview von Adrian Tippetts mit Maarten Hummelen, Marketingdirektor von GSE, unterhalten. Für den ersten Teil, klicken Sie hier.

Manche sagen, es sei wichtig, sich auf die Reduzierung von Verschwendung und die Vereinfachung von Prozessen zu konzentrieren, bevor man automatisiert. Was ist Ihre Meinung dazu? 

Jannes: Aus unseren Studien wissen wir, dass es für Unternehmen einfacher ist, wenn sie anfangen, nach Lean über ihre Prozesse nachzudenken, Industrie 4.0 Technologien auf logische Art und Weise einzuführen. Lean ist darauf ausgerichtet, einen fließenden Prozess zu erreichen, just-in-time, mit reduzierten Durchlaufzeiten und verbesserter Qualität. Investitionen in Industrie 4.0, die diese Lean-Prinzipien und Ziele unterstützen, lohnen sich.  Umgekehrt wird die Einführung neuer Digitalisierungstechniken in einem Nicht-Lean-Kontext nicht viel bringen.

Andererseits braucht die Entwicklung von Lean Zeit, und manchmal lässt sich eine Industrie-4.0-Technik viel schneller umsetzen. Wenn die Kosten für die Verzögerung der Einführung einer Industrie-4.0-Technik beträchtlich sind, können Sie sie einführen – aber gleichzeitig müssen Sie sich Gedanken darüber machen, wie Sie Lean einführen werden.

Die Lean-Roadmap für Verarbeiter

 Maarten: Ich stimme zu, dass man zuerst die Komplexität reduzieren und die Prozesse verbessern muss, um Verschwendung zu vermeiden, bevor man automatisieren kann. Bei GSE haben wir einen Fahrplan für die Einführung von Lean und intelligentem Farbmanagement entwickelt. Es gibt vier Stufen:

  • Farbabgabe und -management: Dosiergeräte mischen den Farbton automatisch und nach Bedarf
  • Farbmanagement: Einsatz von Farbrezeptursoftware für die erfolgreiche Arbeit mit neuen Farben an der Druckmaschine
  • Offline-Proofing von Farben: Mit einem Tisch-Proofer werden die Druckbedingungen simuliert, so dass Sie die genaue Farbe ohne Fingerabdrücke oder Anpassungen drucken können
  • Prozessintegration: Integration von Farbmanagement-Software mit ERP, Cloud-Diensten und mobilen Anwendungen.

Was macht Farbmanagement-Software so besonders?

Maarten: Das Management von Druckfarben für Sonderfarben ist hochspezialisiert, da sie einen einzigartig komplexen, zyklischen Weg durch den Druckworkflow zurücklegen. Die Grundfarben werden kombiniert, um Rezepte für neue Farben zu erstellen, wobei häufig Mischungen aus früheren Aufträgen übrig bleiben.

Ein ERP-Lieferant verwaltet diese Grundfarben, nicht aber die Sonderfarbenmischungen, die aus den genannten Gründen eine höchst spezielle Angelegenheit sind. Hier kommt Farbmanagement-Software wie unsere ins Spiel. Die Software protokolliert die Mengen der in jeder Rezeptur verwendeten Grundfarben und gleicht sie mit den Auftragsdetails ab. Und zurückgegebene Farben werden ebenfalls erfasst, wenn sie zur Wiederverwendung in den Bestand zurückgebucht werden. Mit maßgeschneiderten Softwareprogrammen haben die Benutzer also nicht nur sofortige Informationen über die Farbrezepturen, sondern auch über die Bestände, die Kosten und die Zusammensetzung der Rohstoffe für die einzelnen Aufträge.

Für GSE war es ein logischer Schritt, diese Softwarelösungen anzubieten, da die Registrierung dieser logistischen Ereignisse in dem Moment stattfindet, in dem die Farbe dosiert wird.

Denken Sie an das große Ganze!

 Welchen Rat können Sie Druckereien geben, die über ihre Langzeitplanung nachdenken?

Jannes: Jedes Unternehmen muss sich Gedanken darüber machen, wo es in fünf bis zehn Jahren sein möchte.

Ich erwarte, dass in dieser Zeit die Verbindung zwischen Technologie und Mensch und der Nachhaltigkeitsaspekt eine immer wichtigere Rolle spielen werden.

Man muss sich ein Bild davon machen, wo das eigene Unternehmen sein wird und dann die richtigen Schritte machen, sowohl bei Lean als auch bei der Einführung der richtigen Produkt- und Prozesstechnologie. Über Modularisierung nachzudenken ist sehr wichtig, auch aus Gründen der Nachhaltigkeit.

Die Herausforderungen der Lieferkette – und wie sie mit Lean bewältigt werden können

Die Druckindustrie durchlebt derzeit schwierige Zeiten, insbesondere im Zuge der Covid-Pandemie. Wir erleben Engpässe bei grundlegenden Rohstoffen und Komponenten. Die Lieferzeiten für Maschinen betragen bis zu einem Jahr, während die Kosten für Druckfarbe und Energie in die Höhe schnellen. Ist die derzeitige Lieferkettenkrise ein Zeichen dafür, dass Just In Time ein für die heutige Zeit untaugliches Modell ist?  

Wilfred: Ich denke, es gibt mindestens drei Punkte in dieser Frage. Bei Just In Time geht es um niedrige Lagerbestände und deren Optimierung. Es kann als Modell der Nullbestände missverstanden werden. Als Hersteller brauche ich vielleicht so wenig Bestände wie möglich, aber ich brauche auch genug, um meine Produktion fortzusetzen.

Zweitens ist Covid ein so genannter ‘Schwarzer Schwan,’ also ein seltenes Ereignis. Die Frage ist also, ob man sich auf solche seltenen Ereignisse vorbereiten kann – oder sollte. Das ist ein großes Problem: Vielleicht kann man sich auf etwas so Extremes oder Unerwartetes überhaupt nicht vorbereiten.

Drittens: Wenn Sie wissen, dass dies jetzt der Fall ist, und sich auf künftige Ereignisse vorbereiten wollen, könnte es auch einen Übergang von der Globalisierung zu mehr Regionalisierung geben. Es wird weniger wahrscheinlich sein, dass Unternehmen ihre Produktion in Niedriglohnländer verlagern. Oder wenn sie es doch tun, könnten sie die Entfernung zwischen den Ländern überdenken und näher am Heimatort produzieren. Unternehmen müssen sich fragen: Welche Lieferketten, Netzwerke und Partner sind für mich entscheidend? Wichtige Partner sind möglicherweise im eigenen Land angesiedelt, während die weniger wichtigen weiter entfernt sind. Dies ist also ein guter Zeitpunkt für Unternehmen zu prüfen, wie sie ihre Lieferketten umgestalten können, um den schwarzen Schwan zumindest teilweise zu berücksichtigen.

Im Zuge der Pandemie wird auch die Agilität [die Fähigkeit, schnell auf den Kunden zu reagieren] ein immer wichtigeres Thema für die Hersteller. Wenn die Lieferkette von einer Krise betroffen ist, kann eine Lösung in der doppelten Beschaffung liegen, d. h. zwei anstatt nur eines Lieferanten zu haben. Dies ist in einer dynamischen Welt wichtig.

Maarten: Aus Sicht des Verpackungs- und Etikettendrucks sind die Hersteller aufgrund von Lieferengpässen und strengeren Sicherheitsvorschriften gezwungen, Druckfarben mit anderen Rezepturen neu zu formulieren.  Die Verarbeiter mussten daher ihre Logistik anpassen, um flexibel zu sein und schnell auf eine neue Farbserie oder einen neuen Farbsatz umstellen zu können. Die von uns gelieferten Dosiergeräte tragen zu dieser Flexibilität bei. Ihre modulare Produktarchitektur ermöglicht den einfachen Austausch von Bauteilen, z.B. Rührwerken, Ventilen und Heizsystemen.

Nachhaltigkeit: eine Lean-Frage

Wie wirken sich Umweltbelange und Klimawandel Ihrer Meinung nach auf das Lean-Konzept und seine Umsetzung aus?

Jannes: Im Laufe der Zeit hat sich die Kundennachfrage verändert: Zuerst ging es um die Kosten, dann um die Qualität, die Lieferzeiten und schließlich um die Innovation, um immer wieder neue Produkte zu haben. Jetzt wird die Nachhaltigkeit Teil der Kundennachfrage – die Nachfrage nach Kreislaufprodukten. Die Erwartungen der Verbraucher haben sich also in den letzten Jahren weiterentwickelt.

Bei Lean steht der aktuelle und zukünftige Kunde immer an erster Stelle. Das Erkennen von Verschwendung ist ein wesentlicher Bestandteil von Lean. Das bedeutet, dass in der heutigen Zeit die Verschwendung nicht nur in Zeit und Effizienz, sondern auch in Energie und Material gemessen werden muss.  Aus diesem Grund verwenden mehrere Unternehmen die nachhaltige Wertstromanalyse (sus-VSM). Die Lebenszyklusanalyse und die Modularisierung, die oft einen wichtigen Einfluss auf die Nachhaltigkeit haben, werden zu einem Teil des Lean-Werkzeugkastens werden.

Ich persönlich bin der Meinung, dass die Prozessbetrachtung von Lean weiterhin wichtig ist, aber wir werden eher eine Systembetrachtung brauchen. Wenn jeder Materialien sammelt, um vor zukünftigen „schwarzen Schwänen“ sicher zu sein, dann haben wir ein Problem – denn all diese Produkte und Rohstoffe werden irgendwo sein, wo sie nicht gebraucht werden, und dort, wo sie tatsächlich gebraucht werden, wird es wahrscheinlich nicht genügend Komponenten geben. Global gesehen werden Lean Thinking und Systemdenken also stärker miteinander verknüpft werden müssen.

Maarten: Ich stimme Jannes zu, was die Modularität und das Systemdenken angeht. Die modulare Produktarchitektur unserer Dosiergeräte reduziert den Ausschuss in der Produktion oder bei der Anpassung an die sich ändernden Kundenanforderungen. Einige Druckfarbenhersteller sind ebenfalls dabei, ihr Angebot für ihre Kunden zu modularisieren: Sie trennen die technischen Lacke, die für die funktionalen Eigenschaften sorgen, von den Pigmenten, welche die Farbe liefern. Dies ermöglicht eine größere Vielfalt an Sonderfarben aus weniger Basiskomponenten, was wiederum die Komplexität, den Transport und das Risiko in der Lieferkette verringert.

Erforschung der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine

Welche Trends in Sachen Lean Thinking sehen Sie?

Jannes: Schlanke Produktentwicklung für zirkuläre und nachhaltige Produkte wird ein großes Thema werden. Ich rechne mit weiteren Fortschritten im Zusammenhang mit Industrie 4.0, da wir nicht wissen, was mit der schieren Menge an verfügbaren Informationen alles möglich ist. Eine Herausforderung könnte die Verbesserung des Informationsflusses durch Virtual-Reality-Meetings sein, bei denen ein Team der am besten qualifizierten Experten aus aller Welt zusammenkommt, um in einem virtuellen Raum miteinander zu diskutieren.

Darüber hinaus werden wir eine Entwicklung hin zu Lean 5.0 erleben, einer Weiterentwicklung der Verbindung von Lean und Technologie, die erforscht, wie Menschen und Maschinen zusammenarbeiten und miteinander verbunden sind. Für all diese Dinge können Lean-Tools eingesetzt und angepasst werden.

Maarten: Die Lieferanten in der Wertschöpfungskette für Etiketten und Verpackungen müssen zusammenarbeiten und den Druckereien bessere, integrierte Lösungen anbieten, um die manuelle Dateneingabe und die Doppelarbeit zu reduzieren, welche die Druckereien Zeit und Geld kosten. Zum Beispiel sind die Prozesse sehr uneinheitlich.  Derzeit müssen die Druckereien separate Softwarepakete für Verpackungsdesign, Farbrezeptierung, Produktionsplanung und Farbmanagement verwenden. Wir benötigen ein stärker integriertes Angebot mit einem einfachen, automatischen Datentransfer zwischen den Softwarepaketen, so dass die Verarbeiter die Daten nur einmal eingeben müssen. Wir bei GSE haben uns entschlossen, die InkConnection-Plattform ins Leben zu rufen, auf der die Wertschöpfungskettenpartner Ideen und bewährte Verfahren austauschen können, um den Kunden zu helfen, ihre Prozesse zu verbessern – auch auf nachhaltige Weise.

Für weitere Informationen über die HAN University und die Kurse, die sie im Lean QRM Centre anbietet, klicken Sie hier. Wenn Sie mehr über das Management der Farblogistik in der Etiketten- und Verpackungsindustrie erfahren möchten, sollten Sie mit diesem Artikel über Lean und Smart Manufacturing beginnen.